Trutz, Blanke Hans

13. Januar 2021 Aus Von Schlossherrin

 

(Detlef von Liliencron)

Heut bin ich über Rungholt gefahren,
Die Stadt ging un­ter vor sechs­hun­dert Jahren.
Noch schla­gen die Wellen da wild und empört,
Wie da­mals, als sie die Marschen zerstört.
Die Maschine des Dampfers schüt­terte, stöhnte,
Aus den Wassern rief es un­heim­lich und höhnte:
Trutz, Blanke Hans.

Von der Nordsee, der Mordsee, vom Festland geschieden,
Liegen die frie­si­schen Inseln im Frieden.
Und Zeugen wel­ten­ver­nich­ten­der Wut,
Taucht Hallig auf Hallig aus flie­hen­der Flut.
Die Möwe zankt schon auf wach­sen­den Watten,
Der Seehund sonnt sich auf san­di­gen Platten.
Trutz, Blanke Hans.

Mitten im Ozean schläft bis zur Stunde
Ein Ungeheuer, tief auf dem Grunde.
Sein Haupt ruht dicht vor Englands Strand,
Die Schwanzflosse spielt bei Brasiliens Sand.
Es zieht, sechs Stunden, den Atem nach innen
Und treibt ihn, sechs Stunden, wie­der von hinnen.
Trutz, Blanke Hans.

Doch ein­mal in je­dem Jahrhundert entlassen
Die Kiemen ge­wal­tige Wassermassen.
Dann holt das Untier tief Atem ein,
Und peitscht die Wellen und schläft wie­der ein.
Viel tau­send Menschen im Nordland ertrinken,
Viel rei­che Länder und Städte versinken.
Trutz, Blanke Hans.

Rungholt ist reich und wird im­mer reicher,
Kein Korn mehr faßt der grö­ßeste Speicher.
Wie zur Blütezeit im al­ten Rom,
Staut hier täg­lich der Menschenstrom.
Die Sänften tra­gen Syrer und Mohren,
Mit Goldblech und Flitter in Nasen und Ohren.
Trutz, Blanke Hans.

Auf al­len Märkten, auf al­len Gassen
Lärmende Leute, be­trun­kene Massen.
Sie ziehn am Abend hin­aus auf den Deich:
Wir trot­zen dir, blan­ker Hans, Nordseeteich!
Und wie sie dro­hend die Fäuste ballen,
Zieht leis aus dem Schlamm der Krake die Krallen.
Trutz, Blanke Hans.

Die Wasser eb­ben, die Vögel ruhen,
Der liebe Gott geht auf lei­ses­ten Schuhen.
Der Mond zieht am Himmel ge­las­sen die Bahn,
Belächelt der prot­zi­gen Rungholter Wahn.
Von Brasilien glänzt bis zu Norwegs Riffen
Das Meer wie schla­fen­der Stahl, der geschliffen.
Trutz, Blanke Hans.

Und über­all Friede, im Meer, in den Landen.
Plötzlich wie Ruf ei­nes Raubtiers in Banden:
Das Scheusal wälzte sich, at­mete tief,
Und schloß die Augen wie­der und schlief.
Und rau­schende, schwarze, lang­mäh­nige Wogen
Kommen wie ra­sende Rosse geflogen.
Trutz, Blanke Hans.

Ein ein­zi­ger Schrei – die Stadt ist versunken,
Und Hunderttausende sind ertrunken.
Wo ges­tern noch Lärm und lus­ti­ger Tisch,
Schwamm an­dern Tags der stumme Fisch.
Heut bin ich über Rungholt gefahren,
Die Stadt ging un­ter vor sechs­hun­dert Jahren.
Trutz, Blanke Hans?

Last Updated on 13. Januar 2021 by Schlossherrin